(der Text entstand August 1993)
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Freud, Galton, Lorenz, language, discourse, association )
Hartmut Winkler
Diskurs und System 3
Über Lorenz, Galton und Freuds Begriff der Verdichtung.
1987 hat Thorsten Lorenz einen kurzen Text veröffentlicht, der zwischen
den psychoanalytischen Forschungen Freuds und den kriminalistischen Forschungen
seines Zeitgenossen Galton eine Verbindung herstellt.(1)
Galton setzte das Medium Photographie als Hilfsmittel der Kriminalwissenschaften
ein, und Lorenz leitet aus verschiedenen Parallelen des Vorgehens und der
Begrifflichkeit Aussagen zum Verhältnis von Medientheorie und Psychoanalyse
ab.
Der Text selbst ist eher unscheinbar; zwei Seiten daraus allerdings
enthalten eine Überlegung, die, obwohl eher Spekulation als Theorie,
über das Projekt des Artikels weit hinausgeht. Lorenz macht hier den
Versuch,
-
- die Überlagerung photographischer Bilder,
-
- Idealisierung und Abstraktion als Kennzeichen von Zeichenprozessen,
-
- Freuds Begriff der Verdichtung,
-
- den der Assoziation und
-
- die Vorstellung der Sprache als eines Netzes zusammenzudenken.
(Glücklicherweise bleiben alle Überlegungen sehr speziell; wären
sie auf ein semiotisches Modell hin verallgemeinert, gäbe es kaum
noch etwas hinzuzufügen...)
1. Lorenz: Bilder
"In Wien träumt Sigmund Freud von seinem Freund R., der im Traum
zugleich sein Onkel ist. [...]. Zwei Gesichter werden zur Deckung gebracht.
Diese Bildung von 'Mischpersonen' gilt Freud als 'Hauptarbeitsmittel der
Traumverdichtung' [...]. Es (das Mischen der Personen im Traum, T.L.) ist
wie eine Mischphotographie von Galton, der, um Familienähnlichkeiten
zu erzielen, mehrere Gesichter auf die nämliche Platte photographieren
ließ. [...] Schließlich präsentiert Galton den definitiven
Rekord: die Mischung von 100 Gesichtern, die sich zu einem einzigen verdichten.
Diese Technik [...] läßt die gemeinsamen Züge verschiedener
Personen stärker hervortreten, die unterscheidenden hingegen löscht
sie, sie deckt sie ab."(2)
Geschildert wird ein rein mechanisches Verfahren: eine photographische
Platte wird mit differenten aber 'ähnlichen' Motiven belichtet, der
Akkumulations- und Auslöschungseffekt läßt die Gemeinsamkeiten
hervortreten und die Differenzen verschwinden. Pointe also ist, daß
einer mechanischen Akkumulation (Wiederholung) ein Effekt von Generalisierung,
von Idealisierung entspringt; "'Die idealen Gesichter, die durch die
Methode der Mischphotographie gewonnen wurden, scheinen viel mit den sog.
abstrakten [...] Ideen gemeinsam zu haben.'"(3)
Ort der 'Akkumulation' ist die photographische Platte. Dieser mechanische
Speicher wird mit dem Traummechanismus der Verdichtung parallelisiert;
dem bis dahin irreduzibel psychischen Vorgang der Verdichtung wird ein
sehr schlichter mechanischer Vorgang als Spiegel vorgehalten, mit dem Resultat,
daß der Abstand beider sich deutlich verringert und die Verdichtung,
klarer als bei Freud selbst, in die Nähe technisch/mechanischer Prozesse
rückt.(4)
Von hier aus nun wäre ein Schritt weiterzugehen: es drängt
sich geradezu auf, die Begriffe der Verdichtung und der Akkumulation
in ein allgemeineres Modell des menschlichen Gedächtnisses hinein
zu verlängern.
Das Skizzierte nämlich legt die Vorstellung nahe, tatsächlich
alle Idealisierungen, alle 'abstrakten Ideen' könnten aus einem Prozeß
der Akkumulation und Auslöschung hervorgegangen sein. Wenn die Wahrnehmung
es unablässig mit differenten Konkreta zu tun hat, wäre es Aufgabe
des Gedächtnisses, diese Konkreta zu überlagern, sie zu 'verdichten'
und sie schließlich in jene Schemata zu überführen, die
(wie man annehmen darf) das Gros der Gedächtnisinhalte bilden. Die
Abstrakta wären Resultat eines beschreibbaren Prozesses der Abstraktion;
auf der Strecke bliebe, wie im Fall der Mischphotographien Galtons, was
die Einzelwahrnehmungen als einzelne ursprünglich unterschied.
So betrachtet wäre Verdichtung nicht ein Mechanismus der Traumarbeit
allein, sondern die gesamte Interaktion zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis
wäre nach dem Muster der Verdichtung zu beschreiben.
Erst von dieser Verallgemeinerung aus, so denke ich, ergeben sich die
Anschlußpunkte, die die Lorenzsche Argumentation für eine Medientheorie
wirklich interessant machen:
Zunächst - bei Lorenz nicht erwähnt - der Anschlußpunkt
zur Gestalttheorie. Die Gestalttheorie behauptet, daß alle
Wahrnehmung Gestaltwahrnehmung sei, d.h. ein Wiedererkennen aufgrund von
visuellen Schemata, mit denen der Rezipient dem Wahrgenommenen gegenübertritt.
Sobald man mit Kittler fragt, wie Gestalten entstehen,(5)
gerät man in die unmittelbare Nähe der Galtonschen Mischphotographie,
denn die Ausbildung von visuellen Schemata ist nur in einem Iterationsprozeß,
in der wiederholten Wahrnehmung ähnlicher Objekte denkbar. 'Kumulation',
'Generalisierung in der Überlagerung' und 'Verdichtung' scheinen also
auch die Herausbildung der Gestalten zu beherrschen, nur daß, entsprechend
der oben getroffenen Erweiterung, Ort der Kumulation nicht die photographische
Platte, sondern das menschliche Gedächtnis ist.
Der zweite wichtige Anschlußpunkt ist die Sprache. Wenn oben
von 'abstrakten Ideen' die Rede war, ist das hauptsächliche Medium
dieser abstrakten Ideen sicher die Sprache. Für die Sprache sind zumindest
zwei Momente von Idealisierung konstitutiv: Jedes Wort, jeder einzelne
Begriff stellt eine Idealisierung dar, insofern er eine große Zahl
von Referenten subsumiert - Grundlage jener einzigartigen sprachlichen
Ökonomie, die der schwirrenden Vielfalt des zu Begreifenden eine relativ
begrenzte Anzahl von begrifflichen Werkzeugen entgegensetzt.(6)
Preis dieser Ökonomie ist, daß die subsumierten Referenten um
ihre konkrete Differenz gebracht, generalisert und damit beschnitten werden.(7)
Und wieder drängt das Bild der Mischphotographien sich auf: Begriffe
sind 'Mischphotographien' ihrer Referenten in diesem Sinn...(8)
Das zweite Moment von Idealisierung hängt mit dem ersten eng zusammen:
daß der Mehrzahl der sprachlichen Ausdrücke kein Referent in
der gegenständlichen Welt zugeordnet werden kann ('Einhorn', 'Inflation',
'Gott'), macht die einzigartige Leistungsfähigkeit (und den systematischen
Defekt) der Sprache aus. Signifikate leiten sich nicht von Referenten,
sondern aus Diskurs-Ereignissen ab; Diskurse (Signifikantenspiele) generieren
Signifikate - als Ordnungsschemata, als Modelle, als Denk- Werkzeuge, als
Schemata in jenem Gedächtnis, das überwiegend eben Schemata und
nicht Repräsentationen (konkreter Entitäten, einzelner Ereignisse)
enthält. Auf der Signifikatseite ist Sprache ein Gedächtnisphänomen;
Phänomen einer Verdichtung und Idealisierung, wenn diese auch auf
eine einfache Akkumulation kaum noch zurückzuführen scheint...
2. Lorenz: Sprache
"[Eine direkte Verbindung führt von der Mischphotographie Galtons
zum] Wortassoziationstest. Und es bedarf nur einer kleinen Metonymie, um
zu zeigen, daß es sich in beiden Verfahren um dasselbe handelt.
Die Experimentatoren des Wortassoziationstests, auf die Freud sich
beruft, heißen bekanntermaßen Eugen Bleuler und C.G. Jung.
Der Wortassoziationstest in der Kriminalistik jedoch ist Jahre zuvor bereits
mit einem und nicht mit zwei Namen verbunden: Francis Galton. Der Psychiatrie
wie der Kriminalistik gleichermaßen gelten diese Tests als Aufdeckungsverfahren,
als Überführung des Patienten oder des Täters, der sich
nicht in der Bedeutung eines Wortes, sondern in seiner symbolischen Vernetzung,
nach Bleuler sogen. 'Wortkomplexen', verrät. Miteinander assoziierte
Ideen bilden für Galton eine 'kumulative Idee', nichts anderes als
die 'Wortkomplexe' Bleulers. Aber kumulative Mischideen, d.h. Wortassoziationen,
sind nichts anderes als - ideale Mischphotographien:
'Die idealen Gesichter, die durch die Methode der Mischphotographie
gewonnen wurden, scheinen viel mit den sog. abstrakten (i.e. kumulativen,
T.L.) Ideen gemeinsam zu haben.'
Ein Wort ähnelt keineswegs einer Photographie, zwei miteinander
assoziierte Worte aber einer Mischphotographie. Eine symbolische Ordnung
wird technisch repräsentiert, um so ein Modell für ihr Funktionieren
zu gewinnen."(9)
Auch Lorenz also wechselt vom Feld der Bilder hinüber auf das
Feld der Sprache, mit dem Anspruch, das psychoanalytisch/semiotische Grundmodell
konstanthalten zu können. Und in der Tat scheint der Weg über
die Pluralität der Worte, über den Begriff der Assoziation und
des 'Komplexes' vielversprechend; sobald man aber näher hinsieht,
bricht die Konstruktion als ganze ein.
Dies vor allem deshalb, weil Lorenz' Begriff der Assoziation im Vorstellungsfeld
der Psychoanalyse verbleibt. Für die Psychoanalyse ist eine 'Assoziation'
die Bahnung, die zwei Begriffe im Bewußtsein eines einzelnen Probanden
miteinander verbindet; das freie Assoziieren in der Kur dient dazu, diese
Assoziationsbahnen abzuschreiten, die Vorstellungskomplexe und damit -
nach und nach - die spezifische psychische Struktur des Patienten offenzulegen.
Vom so skizziierten Begriff der 'Assoziation' allerdings ist weder
eine Verbindung zur 'Kumulation' noch zu einem notwendig überindividuellen
Sprachmodell plausibel zu machen, und die Assoziation, dies wird im Zitierten
sogar expliziert, gerät in einen (völlig irreführenden)
Gegensatz zur 'Wortbedeutung'.
Zu retten wäre das Projekt, wenn die psychoanalytischen Terminologie
zunächst auf ein allgemeineres Modell der Sprache bezogen würde.
(Vor der individuell pathologisch/delinquent abweichenden Sprache wäre
die allgemeine in Augenschein zu nehmen).
Innerhalb der Sprachwissenschaften nämlich ist 'Assoziation' der
Saussuresche Begriff für die 'paradigmatische Verkettung', d. h. jene
negativ-differentiellen Verweise, die den einzelnen Begriff relativ zu
allen anderen Begriffen und damit zum Gesamtsystem der Sprache verorten.
Die Sprache wird als ein Netz aufgefaßt, wobei die 'Knoten' dieses
Netzes (die Worte) nicht als positive Entitäten begriffen werden können,
sondern beschrieben allein durch ihre Relation auf andere Knoten...
Innerhalb dieser Vorstellung nun kann zwischen 'Assoziation' und 'Kumulation'
tatsächlich ein regelhafter Zusammenhang konstruiert werden: auf die
Frage nämlich, wie das Wort zu seiner Stelle im System (zu seinen
'Assoziationen') kommt, ist zumindest eine skizzenhafte Antwort möglich:(10)
-
- Worte erhalten ihre Bedeutung durch Texte (explizite oder implizite Definition);
-
- aus jedem konkreten Kontext, in dem das Wort auftritt, nimmt es etwas
mit; jede Verwendung lädt die Worte mit neuen Bedeutungsnuancen auf;
-
- Bedeutung kann damit als eine statistische Akkumulation vergangener Kontexte
beschrieben werden; das Wort als eine Art Träger, der den Extrakt
vergangener Kontexte in jeden neuen, aktuellen Kontext einbringt.
-
- Texte bilden eine Ebene der Explikation; sie schreiten (linear) jene
Verbindungen ab, die das Wort als 'Assoziationen' im Netz der Sprache verorten.
-
- auf eine Formel gebracht: syntagmatische Anreihung (Nähe im Text)
schlägt in paradigmatische Verkettung (Nähe im sprachlichen System)
um.
Diese Vorstellung beschreibt die Sprache als eine Maschine, die
Texte/Kontexte in 'Assoziationen' umarbeitet, d.h. syntagmatisch- manifeste
Diskursereignisse in die paradigmatisch-latente Struktur der Sprache überführt.
Mit dieser Vorstellung nun wird die Parallele zur Mischphotographie
Galtons plausibel: wie die Mehrfachbelichtung die einzelnen Photographien
kumuliert und generalisiert, kumuliert die Sprache vergangene Kontexte.
Das Wort, nun allerdings jedes Wort, ist tatsächlich eine 'kumulative
Idee' (Galton/Lorenz), ein Komplex von Assoziationen und ein Produkt von
Kumulation.
(Die kriminalistisch/psychoanalytischen Wortassoziationstests wären
damit ein Sonderfall im allgemeinen Fuktionieren der Sprache. Da es im
Wortassoziationstest darum geht, solche Assoziationsbahnen und 'Komplexe'
aufzufinden, die von der intersubjektiv etablierten Netzstruktur abweichen,
machen sie den Charakter der Bahnung wahrnehmbar, jenes Netz, das sonst
vollautomatisch und hinter dem Rücken der Sprechenden funktioniert...).
Nicht nur individuelle Komplexe, sondern 'Wort' und 'Bedeutung' allgemein
scheinen sich jenem Mechanismus zu verdanken, der anhand der Bilder als
'Verdichtung' beschrieben worden ist.
3. Isolation
Lorenz' Parallele zwischen Mischphotographie und Verdichtung hat einen
wesentlichen Defekt; einen Defekt, der allerdings erst im Gang der hier
vorgeschlagenen Verallgemeinerungen wahrnehmbar wird: Die Mischphotographie
nämlich kann nur akkumulieren und 'verdichten', was vorab dem Kriterium
der Ähnlichkeit gehorcht;(11)
die Ähnlichkeit ist extern vorausgesetzt und hat im Mechanismus selbst
keinen Ort.
Für die Freudsche Verdichtung gilt diese Vorbedingung nicht; die
Traumarbeit kann beliebige Gegenstände zusammenziehen, um einen Traumgedanken
einzukleiden.(12) Und ähnlich
kann auch die Gestalttheorie eine vorgängige Ähnlichkeit nicht
voraussetzen: wenn man die Gestalten als ein System differenter und die
Wahrnehmungen differenzierender Schemata versteht, muß sowohl die
Dimension der Ähnlichkeit als auch die entgegengesetzte der Verschiedenheit,
der Differenz ins System eingehen...
Die generelle Frage also ist, wie ein System auf Basis von Verdichtung
und Akkumulation Differenzen generiert, Unterschiede, Grenzen, und damit
jene isolierten Einheiten, die das Bild der photographischen Platte als
eines isolierten Orts der Akkumulation immer schon voraussetzt. Als Arbeitsbegriff
für diese Problematik möchte ich den Begriff der Isolation vorschlagen.
Eine erste und relativ unaufwendige Antwort ist auf dem Terrain der
Gestalttheorie möglich. Wenn Gestalten in der Iteration von Wahrnehmungen
entstehen, indem im amorphen, wahrgenommenen Material Strukturen wiederkehren
und in der Wiederkehr überhaupt erst hervortreten, Identität
gewinnen,(13) ist damit ein Modell
beschrieben, das im gleichen Zug sowohl Ähnlichkeit als auch Differenz
generiert. (Auf dem Feld der visuellen Wahrnehmung ist dies das Problem
der Segmentierung, d.h. der Gliederung des einheitlichen Wahrnehmungsfeldes
in 'Objekte', die mit zunehmender Sicherheit wiedererkannt und gegenüber
ihrem 'Hintergrund' stabilisiert werden).(14)
Das Bild der Photoplatte ist damit endgültig überschritten:
Nicht die Platte stellt den vordefiniert-isolierten Ort für die Akkumulation,
sondern der 'Ort' selbst ist Effekt der Akkumulation und bildet sich als
ein identischer in der Akkumulation erst heraus. Das Photographierte, so
könnte man sagen, baut sich seine Platte auf; denn das Gedächtnis
wird, mit dem Wahrgenommenen konfrontiert, eine Vielzahl von Schemata ausprobieren
(alle entweder im Aufbau, Abbau oder Umbau befindlich); das Wahrgenommene
wird auf Ähnlichkeit und Differenz geprüft werden und (kumulativ)
in das System der Ähnlichkeiten und Differenzen eingehen.
Eine zweite und systematischere Bestimmung wäre, daß Isolation
immer Isolation vom Kontext, d.h. Kontextentbindung ist. Dies gilt für
die Gestalterkennung, die das Objekt von seinem Hintergrund isoliert, ebenso
aber auch für die Kumulation auf dem Feld der Sprache, die, wie gesagt,
syntagmatische Reihen in paradigmatische und das heißt Kontexte in
'Bedeutung' verwandelt.
Vom Begriff der Isolation aus tut sich ein völlig eigenes Feld
der Semiotik auf, das im hier skizzierten Zusammenhang nicht geklärt
werden kann. Deutlich aber dürfte sein, daß Isolation nicht
als Leistung des Einzelnen konzipiert werden kann; legt die Gestalttheorie
noch nahe, die Gestalten seien Besitz des Individuums und in der Interaktion
eines einzelnen Wahrnehmungsapparates mit einem einzelnen Gedächtnis
entstanden, macht die semiotische Perspektive deutlich, daß Zeichensysteme
Isolation und Kumulation intersubjektiv organisieren; Zeichensysteme sind
auf unterschiedlicher Stufe der Rigidität vor-isoliert (die Tatsache,
daß Wörter im Schriftbild durch Leerräume getrennt werden,
daß Bilder eine vergleichbare Segmentierung aber nicht kennen, mag
dies illustrieren).
Das Zusammenspiel von Kumulation (Verdichtung) und Isolation (Abstoßung,
Differenzierung) dürfte so etwas wie den Kern aller symbolischen Prozesse
ausmachen; eine semiotische Theorie, die diesen Gedanken durchführt,
allerdings steht noch aus.(15)
4. Verdichtung und Vergessen
Konzipiert man, wie oben vorgeschlagen, die Verdichtung als einen allgemeinen
Gedächtnismechanismus, wird man eine Dialektik zwischen Verdichtung
und Vergessen etablieren müssen.
Insofern das Einzelne in der Verdichtung untergeht, und ersetzt wird
durch ein Schema, das nur noch bestimmte, nicht aber alle seiner Aspekte
repräsentiert, stellt die Verdichtung ebensosehr wie ein Gedächtnissystem
ein System regelhaften Vergessens dar. Ein paradoxes Vergessen, ein Vergessen
hinein in die Struktur.
Die Frage kann entsprechend nicht mehr lauten: wird eine Wahrnehmung
Bestandteil des Gedächtnisses oder wird sie vergessen, sondern: in
welcher Weise wird sie repräsentiert. Auf welcher Stufe der Konkretion;
gemeinsam mit ihrem Kontext und in relativer Detailliertheit oder stark
generalisiert und ihres Kontextes beraubt...
5. Speicher und Gedächtnis
Der Gang der Argumentation hat, um Lorenz' Idee einer Parallele zwischen
Mischphotographie und Verdichtung einzulösen, Verallgemeinerungen
vorgenommen, die einen Sprung im Maßstab und in der Reichweite bedeuten.
Die technische Metapher wurde als Vehikel benutzt, einen Begriff der Verdichtung
zu entfalten, der die Metapher deutlich überschreitet, und der Begriff
der Verdichtung selbst wurde über das Freudsche Konzept hinaus ausgedehnt.
(Es wäre deshalb sinnvoll, von der Verallgemeinerung aus noch
einmal zurückzufragen, inwieweit der gedehnte Begriff mit dem Freudschen
überhaupt noch kompatibel ist, und inwieweit er sich vom Modell einer
quantitativ beschreibbaren Akkumulation, der Pointe bei Lorenz, entfernt.)Zumindest eines aber scheint die Überlegung zu leisten: Wenn alle
jüngeren Gedächtnistheorien darauf beharren, daß zwischen
den mechanischen Speichern und dem menschlichem Erinnerungsvermögen
eine unüberbrückbare Differenz bestehe - Reaktion der Geisteswissenschaften
auf die anmaßende Behauptung der Künstlichen Intelligenz, gedächtnisähnliche
Strukturen seien technisch zu implementieren -, so scheint der Begriff
der Verdichtung diese Polarität zumindest zu verwirren: ohne Zweifel
ein mechanisches Bild,(16) und
dennoch ohne Ehrgeiz in Richtung einer technischen Implementierung, scheint
der Begriff der Verdichtung beiden Sphären zugehörig; die Ausgangsfrage
scheint damit in gewisser Weise falsch gestellt, und aus der veränderten
Perspektive - nun einer Ökonomie der Diskurse (?) - zu reformulieren.
Den 'mechanischen Speichern' der Monumente, der Schrift und der Rechner
steht nicht ein 'lebendiges Vermögen' gegenüber, und die ersteren
sind sowenig 'starr', wie die zweiten 'in ständiger Bewegung'; beide
sind immer schon vermittelt durch die Ökonomie eines diskursiven Prozesses,
der, in ständiger Bewegung befindlich, Zeichen generiert, Bedeutungen
auf- und abbaut, 'isoliert', 'verdichtet' und deponiert, und sich vielleicht
wenig darum schert, ob diese 'Depots' in menschlichen Köpfen oder
in Monumenten ihren interimistischen Ort finden. Es sei zugestanden, daß
die Regeln dieser Ökonomie so wenig durchschaut sind, wie die der
Gehirnvorgänge selbst; und zweitens, daß der diskursive Prozeß
Subjekt nur in dem Sinne sein kann, als die tatsächlichen Subjekte
die kumulativen Effekte ihrer Aktivitäten verkennen. Ohne Zweifel
aber ist die Technik selbst ein solch kumulativer, verkannter Effekt. Ein
System gewucherter 'Depots', das nicht mehr 'tot' dem 'Lebendigen' gegenübersteht
und 'passiv' auf die verlebendigende Aktivität der Subjekte wartet.
Wenn es der Medientheorie u.a. darum geht, die mediale Technik als Technik
zu denken, und das heißt auch: die Eigenaktivität, bzw. Eigendynamik
technischer Entwicklungen miteinzubeziehen, dann könnte es lohnend
sein, gezielt solche Begriffe zu entwickeln, die zwischen menschlichen
und technischen Prozessen zunächst nicht unterscheiden. Der Begriff
der Verdichtung und speziell seine Lorenzsche Ausdeutung könnte ein
solcher Begriff sein...
Anmerkungen:
(1) Lorenz, Thorsten: Der kinematographische Un-Fall
der Seelenkunde. In: Kittler, F.A.; u.a. (Hg.): Diskursanalysen 1. Medien.
Opladen 1987, S. 108- 130 zurück
(2) ebd., S. 110f,
"[Auch] die Technik Mareys besteht in der Mehrfachbelichtung auf
einer feststehenden Platte." (119) zurück
(3) ebd., S. 113 (L. zit. Galton) zurück
(4) Lorenz' Argumentation läuft darauf hinaus,
den Freudschen Begriff auf sein technisch/mediales Apriori zu reduzieren
("...Der Phototechniker Freud hat schlicht seinen Galton genau gelesen...",
115); wie bei Kittler wird die Technik als vorgängig angesehen, die
historische Parallelentwicklung der Psychoanalyse und der Medientechnik
eindeutig auf dem Terrain der letzteren zusammengeführt. Auch wenn
man dieses Projekt nicht teilt, kann es lohnen, den funktionalen Parallelen
nachzugehen, und dies umso mehr, als Freud selbst immer wieder technische
Metaphern benutzt hat.
"Eine symbolische Ordnung wird technisch repräsentiert, um
so ein Modell für ihr Funktionieren zu gewinnen." (Lorenz, a.a.O.,
S. 113) zurück
(5) referiert in: Winkler, H.: Der filmische Raum
und der Zuschauer. Heidelberg 1992, S. 130ff zurück
(6) "Begriffliche Abstraktionen [...] entstehen,
so schreibt Condillac, 'indem man aufhört, an die Eigenschaft zu denken,
durch die die Dinge unterschieden sind, um nur an diejenigen Qualitäten
zu denken, in denen sie übereinkommen.'"
(De Man, Paul: Epistemologie der Metapher. In: Haverkamp, Anselm (Hg.):
Theorie der Metapher. Darmstadt 1983, S. 426) zurück
(7) De Man fährt fort:
"Annähernd hundertdreißig Jahre später wird Nietzsche
dasselbe Argument gebrauchen, um zu zeigen, daß ein Wort wie 'Blatt'
durch das 'Gleichsetzen des Nichtgleichen' und durch 'beliebiges Fallenlassen
der Verschiedenheiten' gebildet wird." (ebd.) zurück
(8) Es geht hier ausschließlich um die Strukturparallele;
über das Verhältnis von Zeichen und Referent und die Zeichenentstehung
ist damit nichts ausgesagt (s.u.). zurück
(9) Lorenz, a.a.O., S. 113 (Hervorh. u. Erg. H.W.)
zurück
(10) Winkler, H.: Metapher, Kontext, Diskurs, System.
In: Kodikas/Kode. Ars Semeiotica. Vol. 12, Nr. 1/2, 1989, S. 21-40
zurück
(11) ...überlagert werden z.B. nur Portraits,
nicht Photographien allgemein... zurück
(12) Das Problem allerdings kehrt sofort zurück:
wenn das einzig verbindende, das tertium comparationis der verdichteten
Einzelelemente der Traumgedanke ist, wird man fragen müssen, ob der
Traumgedanke eine Existenz außerhalb seiner Einkleidung hat, ob er
als Signifikat seinem Signifikanten 'vorangeht'...
Diese Frage ist inzwischen häufig und auch an den Begriff der
'Einkleidung' selbst gestellt worden. zurück
(13) Winkler, Der filmische Raum..., a.a.O., S. 130ff
zurück
(14) Dem naheliegenden Einwand, daß der Begriff
der Iteration Identität (und damit Ähnlichkeit und Differenz)
bereits voraussetzt, wäre mit Derrida zu begegnen, der dieses Verhältnis
gerade umdreht und zeigt, daß Identität nur in der Wiederholung
(und das heißt: nicht) zu haben ist. zurück
(15) Einige der Theorien, die sich in dieser Richtung
vortasten, versuchen das Verhältnis über die Mechanismen von
Metapher und Metonymie und die Jakobson/Lacansche Theorie, beide seien
mit Verdichtung und Verschiebung synonym, zu klären. zurück
(16) ...und dies auch ohne den von Lorenz gezeigten
Bezug auf die Mischphotographie... zurück