Buchbesprechung

Hartmut Winkler, Docuverse

 

Referatedienst zur Literaturwissenschaft

30/1998, H. 4

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Hartmut Winkler: Docuverse


Von Sebastian Köhler

Der Computerpraktiker und -theoretiker Hartmut Winkler (Bochum) strebt - entgegen einer unifizierenden Haupttendenz gegenwärtiger Debatten (vgl. S. 63) - mit seiner äußerst anregenden Monographie eine differenziertere Mediengeschichtsschreibung entlang seines semiotischen Prinzips von "Verdichtung" zwischen Isolation und Kontext als den beiden Polen von Zeichenprozessen an (vgl. S. 377). Die großen Erwartungen ("Hype") angesichts von Multimedia und Hypertexten stellen ihm einen vorübergehenden Kompromiß dar zwischen dem längst krisenhaften Universum technischer Bilder und den Rechnern, auf deren abstrakt-Strukturelle (Tiefen-)Ebene W. sich unter gewisser Vernachlässigung der beobachtbaren und (doch zumindest auch) wirksamen Oberflächen konzentriert (vgl. S. 375). Für den auf die diskreten Aspekte der Rechner konzentrierten Computerkritiker W. müssen Netzcomputer zunächst von einer "maßlosen Überschätzung" befreit werden, um sodann als partikular-komplementäre erst ihre "phantastische Chance" nutzen zu können, "die Strukturelle Seite der Reälität und der Zeichensysteme zu erkunden" (S. 329).
"Docuverse" soll dabei ein Universum maschinenlesbarer Dokumente, Programme und Projekte bezeichnen, welches technisch, gesellschaftlich und institutionell eigenen Regeln sowie besonderen medialen Gesetzmäßigkeiten folgt (vgl. S. 9f.). Andere jüngere Theorien hingegen heben vor allem die Eigenschaft des "Docuverse" hervor, ein relativ menschenfernes Universum zu sein (vgl. S. 175). W. nimmt deswegen eine menschliche "Wunschstruktur" an, der gemäß das Datenuniversum vor allem auf eine "Externalisierung" der Sprache abzielt (S. 17). Der Untersuchung und Kritik dieser weitreichenden und doch nicht neuen Projektion widmet sich der Verf. ausführlich.
Netzcomputer versprechen demnach, "ein Grauen zu eliminieren": Den wünschenden Datenuniversalisten graute davor, daß Texte grundsätzlich auslegbar und hermeneutische Gehalte kaum festzustellen, aber gleichwohl hier und da sind. Die gegenläufige Externalisierungsstrategie versuchte also im Anschreiben, eine Unterscheidung zwischen Sprache und Sprechen einzuebnen (vgl. S. 53).
In dualistischer Tradition wird Sprache als lineares Kommunikationsmedium (gegenüber nicht-linearen) charakterisiert. Solche Gegenüberstellung unterläuft der Vorschlag W.s (u.a. Unterscheidungen Ferdinand de Saussures aufgreifend), Sprache in den beiden komplementären Aspekten von "Situation" des ausdrücklichen Sprechens (linear) und "System" der Sprache (nicht linear) zu bestimmen (vgl. S. 32ff.): Sprache als gesellschaftliches Verkehrsmittel brächte dann "die linearen Syntagmen im Außenraum mit der nicht-linearen Struktur der empirischen Gedächtnisse" in (regelhafte) Verbindungen. Auch Sprache wird als n-dimensionales Netz modelliert, die Netzmetapher von Sprache ist - entpsychologisierend und an beobachtbaren Ausdrücken orientiert - eine assoziative, welche den linearen Charakter von Sprache relativiert und anreichert: Vernetzt können explizite Syntagmen verbunden werden mit Annahmen über Strukturen und Funktionieren menschlicher Gedächtnisse, wobei jene "irreduzible Differenz zwischen beiden Polen" (Situation und Schema, S. 39) nicht eingeebnet würde.
Nähert man sich semiotisch wie der Verf. der Sprache, so fällt vor allem schriftsprachlich auf, daß syntaktisch Elemente aus einem relativ festen Bestand ausgewählt und nach bestimmten Regeln zu Syntagmen aufgereiht werden. "Syntaktisch isoliert" hieße dann (im Unterschied beispielsweise zur Blütezeit des Kinofilms), daß Elemente in ihrer syntaktischen Position austauschbar und (re-)kombinierbar sind. Von solcher syntaktischen Isolation ausgehend, versucht W. eine Bedeutungstheorie zu entwerfen: Sprachliche Elemente sieht er "negativ differentiell" aufeinander bezogen. Bedeutung würde - einerseits und wesentlich - durch "Abstoßung" konstituiert, das syntaktisch-isolationistische Prinzip durch diskrete, tendenziell digitale Zeichen noch "in extremem Maße" zugespitzt (vgl. S. 237f., 266f.). Aufgehoben gäre solche extrapolierte Isolationstendenz in einem Kommunikationsmodell, das (auch sprachlich) von De- und Rekontextualisierungen menschlichen Verkehrens ausgeht.
Im Verkehrs-Spektrum der Medien kann man isolationistische von weniger isolationistischen Medien unterscheiden (wenn auch nicht trennen; vgl. dagegen S. 320). Um nicht ein fetischisiertes "Symbolisches" gegen alle Einsprüche (seitens Imaginärem, Kontext, Situation, Lebensweh, Bedürfnissen etc.) zu armieren, kommt (wieder) vieles auf das Sprachkonzept als Kernstück menschlichen Kommunizierens an: Sprache ist nicht allein Spaltung, Isolation, Differenzierung, sondern läßt Differenzen UND pragmatisierte Identiäten (Ähnlichkeiten) moderieren, differentielle Ausdrücke UND bedeutsamen Zeichengebrauch, Syntax UND semantische Pragmatik, oder wie W. schreibt: "Verschiebung UND Verdichtung" (ebd.). Ein entsprechendes semiotisches Modell (vgl. S. 286ff.) soll die widersprüchlichen Momente der Isolation und des Kontextes; der Identität und der Wiederholung, der Beharrung und der unvordenklich/unabsehbaren Artikulation "tatsächlich auf einander" beziehen. Zeichen sind zwischen diesen beiden Polen als "notwendigen Bestimmungen des Zeichenprozesses" stets mehr oder weniger abgrenzbar UND verschiebbar.
Die dynamische Differenzierung von Praxen führt in folgender Hinsicht historisch immer wieder zu medialen Krisen: Weitere Verkehrsbereiche entfallen dem medial (z.B. sprachlich) Verfaßten oder werden in Sonderausdrücken (z.B. Fachsprachen) eingeschlossen. Vermittelnde Leistungen beispielsweise allgemeiner Termini werden im 19. Jh. zunehmend suspekt, "Sprachbenutzer aus der Innenperspektive einer selbstverständlichen Benutzung immer entschiedener herausgedrängt". Solcherart Krise des Mediums (Vertrauen, Glaubwürdigkeit), die sich bei (technischen) Bildern wiederholt und fortschreibt, ist für W. der entscheidende Anstoß "für die gesamte Evolution der technischen Medien" (S. 123). Jeweils neue Medien erscheinen so gleichsam in einer beständigen Oszillation als eine technische Antwort auf das Auseinanderlaufen und Sich-Verselbständigen von Diskursen.
Verdichtende, kumulative Signiiikatbildung gilt W. im Anschluß an Jacques Lacan als bedeutsamer "Basismechanismus des Zeichenprozesses" (S. 160ff., 170, 252), die er als Wechselverhältnisse zwischen syntaktisch-formal semantischen "Ereignissen" und semantisch-pragmatischen "Monumenten" beschreibt (S. 179). W.s entsprechender, symbolisch-relationierender Vektor bewegt sich zwischen zwei Polen auf der Ebene des immer schon Vermittelten: einerseits Bildmedien mit ihrer Nähe zur einzelnen, konkret-komplexen Situation und mit ihrem Selbstzwang, Wiederholung und Schematisierung zu vermeiden/verleugnen; andererseits Sprache, Schrift und Computer mit ihrer Nähe zur Schematisierung: "Wenn beides die Pole eines tatsächlich durchgehenden Spektrums" wären, verschränkten sich "die Leistungen und die Krankheiten der medialen Projekte jeweils" als polare und doch komplementäre Vereinseitigungen der Zeichenprozesse, welche aber immer beide Seiten, Situation und Schema, umgreifen sollen (S. 252f.).
Entgegen dem Ideal der universalen Veränderbarkeit (Verfügbarkeit) aller Entitäten (Daten, Informationen; vgl. S. 55ff.) sieht W. "die Geschichte in den Hyperspace" einziehen: Wie (un-)bewußt auch immer, bildeten sich nach syntaktischen Öffnungen bedeutsame und praxisrelevante Strukturen heraus, die für W. eine relative Stabilität aufweisen und den flüchtigeren Strukturen und Ereignissen im Netz beharrend gegenübertreten. Semantiken müssen als verdichtende/verdichtete hierarchisieren, um qualitative Unterschiede, Differenzen von Verweisdichten, verschieden tiefe Bahnungen etc. kommunikabel zu machen und zu halten oder auch wieder aufzuheben. Semantiken als bedeutsame Resultanten öffentlicher, gesellschaftlicher Auseinandersetzungen jedoch würden durch die ihnen eingeschriebenen Perspektivenwechsel sowie de- und rezentralisierten Positionalitäten als Hierarchien eher "polyzentrisch" (S. 180) sein (können).
Konventionell-sprachliche Semantik hat als Hierarchie die Aufgabe, mediale "Proliferation" einzudämmen: Für W. erscheinen so Knappheit und Ökonomie der überkommenen Sprache weniger als Armut (im Sinne begrenzter - auch syntaktischer - Ressourcen) denn als bedeutsamer und sinnvoller "Damm", errichtet gerade gegen eine "freie Semiose, die Eigenbewegung der Zeichenprozesse" (S. 138). Ein (medien-)generationenübergreifendes "Projekt" besteht demzufolge darin, diese ,;gefährdet-arbiträren Zeichen" bezüglich menschlichen Verkehrens zu stabilisieren. Was die technische Evolution von Medien angeht, beobachtet der Verf. entsprechende Zyklen der Zeichensysteme: Hoffnungsvolle Frühphase - stabile, ja "naturalisierte" Herrschaftsphase - schließlich Desillusionierung, während der mit einer Innovation der Zyklus erneut anläuft (S. 215f.).
Medien, exemplarisch Sprachen, wirken als bedeutende vor allem verdichtend (vgl. S. 154ff., 172). Netzcomputer und Docuverse charakterisiert W. dadurch, daß diese - anders als Sprachen - keine solche Verdichtung kennten. Wenn aber Netzverkehr als syntaktisch/ pragmatisch er-öffnendem jegliche ver-dichtende Fähigkeit abgeht, bilden sich keine Signifikate (vgl. S. 178). Die neuen, multi- und hypermedialen Signifikantenanordnungen blockierten dann Transformationen von netzartigen Signifikanten in netzartige Signifikate - zumindest insofern solche Prozesse (nur) als rechner- oder gedächtnisinterne und nicht (auch) als erneuert öffentliche konzipiert werden. W. resümiert - auf die Tiefen-Ebene der Netzcomputer konzentriert - die mediengeschichtliche Situation semiotisch wie folgt: Weder setzen die Rechner das bisherige Medien-Projekt (McLuhans) in Richtung vermittelter Synästhesie (einschließlich Oralität) fort, noch sind sie medial revolutionär. Als "Revision" nehmen sie vielmehr eine Tendenz analoger Medien (auditiv und visuell) zurück, "die Konkretion der Kontexte gegen die Identität der Zeichen", gegen die Isolationstendenz stärker ins Spiel zu bringen. Ein technisch-mimetisches, menschlichen Lebenswelten verbundenes "Einspruchsrecht" sieht W. dergestalt digital auf der Strecke bleiben (S. 267).
Informationsverarbeitung auf gesellschaftlicher Ebene kann jedoch auch Verringerung von Redundanz bedeuten, "der Rest der Köpfe und der Körper [kann] für neue Wissensbestände freigemacht" werden. Im kritischen Aufgreifen von Vilém Flussers Kooperationsideal läßt sich sagen, insofern Gesellschaft nicht nur arbeitsteilig-differenzierend funktionieren muß ("objektive Vergesellschaftung"), sondern Menschen kommunikativ-vernetzt handeln (können), ist das Gemeinwesen in seinen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Aspekten womöglich "klüger" als alle involvierten Individuen sowie Rationalitäten symbolisch-generalisierender Medien zusammen. Gesellschaftliche Kommunikation würde zum "direkten Gegenüber" der Arbeitsteilung, insofern sie vermittelt, was die Arbeitsteilung trennt. Bemühungen um gesellschaftliche Kohärenz und Kommunikation, um Öffentlichkeit sollen zu einer zentripetalen Tendenz beitragen, die in der Lage wäre, dem naturwüchsig-zentrifugalen Druck systemischer Differenzierungen eine "Waage zu halten" (S. 114, 203f.).

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Letzte Aktualisierung: 15. März 2002