(Vortrag auf dem Workshop: Odysseen des Wissens, Weimar, 3 '2000 - website creation date 29. 3. 00, update: 29. 3. 00, expiration date 29. 3. 2001, 16 KB,
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( keys: collaborative writing, media, theory, technology, media history, condensation)
Hartmut Winkler
Kollaborative Schreibprojekte im Netz
(Über Komplexität und einige mediengeschichtliche Versuche
sie wieder in den Griff zu bekommen).
Preface: Ich habe etwas Skrupel zu schreiben, weil
ich nicht weiß, worum genau es bei der Veranstaltung gehen
soll. Und ich schreibe lieber für Kontexte, die ich einigermaßen
einschätzen kann. Ich habe mich eine ziemliche Zeitlang durch
die 'hyperdis'-Links geklickt, 'nic-las' hat mich mit viel Graphik
und einem Antworttempo von zeitweise 200 Bps nahezu zum
Irrsinn getrieben, mein Rechner hat sich mehrfach mit Java-
Fehlern verabschiedet - und all das, ohne daß ich wesentlich
schlauer geworden wäre.
Was ich schreiben werde, also ist von kaum einer Sachkenntnis
getrübt. Worüber werde ich schreiben?
Ich habe angekündigt: über Komplexität. Und (eben)
einige mediengeschichtliche Versuche, sie wieder in den Griff zu
bekommen. Im einzelnen werde ich schreiben über den
Umraum, in den kollaborative Schreibprojekte investieren. Über
Parallelprojekte, die die Mediengeschichte hervorgebracht hat,
ohne sie kollaborativ zu nennen, über ein Parallelprojekt vor
allem zu jeder möglichen Enzyklopädie und einiges andere mehr.
Und letztlich über den Status von Kooperation und Kollaboration
in den Medien. Und zwar aus einer medientheoretischen Sicht
(die es bekanntlich immer ganz genau und besser weiß).
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Meine erste These ist, daß wer kollaborativ schreibt, dies nicht
tut, weil mit dem Hypertext dafür ein neues Medium zur
Verfügung steht, das solche Kooperation erlaubt, verlangt oder
nahelegt. Ich denke, daß es um ein Mißtrauen dem Schreiben
gegenüber geht. Jeder, der schreibt, wird dieses Mißtrauen nur
allzu gut kennen: Es gibt eine so überwältigende Masse von
Geschriebenem; welchen Anlaß, welche Berechtigung, welches
Recht habe ich, diese ungeheure Fläche noch einmal zu
erweitern, an irgendeiner ihrer Seiten noch Zusätzliches
dranzustriken? 'Kollaborativ' zu schreiben, nimmt diesen
Horror zumindest etwas zurück, indem eine erste Vorstellung
von möglichen Adressaten, von einem Kontext dieses
Schreibens, die Vorstellung von einem (ersten) Leserkreis und
damit ein Feedback-loop in das Schreiben (oder eben die
Schreibfläche) bereits eingebaut ist.
Medientheoretisch gesprochen also handelt es sich um eine
Horizontbildung; um die Bildung eines Subdiskurses,
der das Schreiben gegen den Gesamtdiskurs abschirmt. Ein
paralleler Sub- und Schutzraum wäre z.B. die Wissenschaft, die
es, gegliedert in die Rayons der akademischen Fächer, erlaubt,
weite Teile des übrigen Diskurses straflos auszublenden.
So betrachtet geht es, und damit bin ich bei meinem Thema, um
eine Reduktion von Komplexität. Will der
Augenschein uns überzeugen, kollaboratives Schreiben sei
komplexer, ein Zuwachs an Komplexität, ist meine Behauptung,
daß es Komplexität reduziert. (Was nichts böses ist, sowenig wie
Komplexität eben ausschließlich gut).
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Schreiben, konventionelles Schreiben, laboriert an noch weiteren
Problemen. Z.B. an dem Problem, wie das eigene Projekt, der
eigene Text sich zur Fläche der gesamten übrigen Texte verhält.
Ich möchte dies das Problem der Anreihbarkeit
nennen; innerhalb der Naturwissenschaften scheint Anreihbarkeit
durch ein restriktiv/repressives Wahrheitskonzept einigermaßen
gesichert - wenn sich dort zwei Thesen widersprechen, ist,
zumindest grob gesagt, eine von beiden falsch. Die
Einzelprojekte also sind idealiter vollständig anreihbar, insofern
alle an der gleichen Wahrheit arbeiten.
In den Geisteswissenschaften ist dies, wie wir wissen,
keineswegs so. Ursache dafür, daß die Perspektiven und damit
die Texte sich in babylonisch-unendlicher Vielfalt auftürmen;
und diese Vielfalt trifft den einzelnen Text unmittelbar: drängt
ihn an den Rand eines fraktal gefalteten Textuniversums, das fast
ausschließlich aus Rändern besteht.
Kollaboratives Schreiben, dies ist meine zweite These, löst das
Problem der Anreihbarkeit auf, und zwar auf verschiedenen
Ebenen: auf der Ebene der Textproduktion in das Modell eines
fiktiven Dialogs; ob die Schreibenden sich für das bereits
Geschriebene tatsächlich interessieren oder nicht.
Auf der nächst höheren Ebene in das Modell der Kooperation.
Gemeinsam sind wir nicht viele sondern irgendwie stark. Da die
Anreihbarkeit der einzelnen Beiträge im Modus der
Kollaboration - des Geleitzuges - garantiert erscheint, kann das
Geschriebene mit einem kumulierten Geltungsanspruch auftreten.
Kann es?
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Und zunächst: geht es - wieder beim konventionellen Schreiben -
denn überhaupt (oder ausschließlich) um Anreihbarkeit? Jeder
einzelne Text, dies ist meine dritte These, verhält sich wie ein
frierender Hamster, und drängt von der kalten Peripherie in die
Mitte. In der Mitte der anderen Hamster aber ist der Platz
äußerst knapp; es ist warm, aber eng. Hat es Luhmann in den
Kanon geschafft, so ist sofort die Frage, welcher seiner 500.000
Texte denn nun der wirklich wichtigste sei (impliziert die
Phantasie, daß man sich die anderen vielleicht eben doch sparen
könne); und nur der Bestseller scheint den Traum, überhaupt
gelesen zu werden, einigermaßen zu realisieren.
Es ist dies die komplizierte Frage nach der hierarchischen
Position des einzelnen Textes oder allgemeiner, nach seiner
Signifikanz.
Selbstverständlich sind wir gegen Hierarchien. Und wir können
uns, z.B. im Modus der Kunst, mit einer peripheren, ja
mißachteten Position unserer Texte sogar anfreunden. Selbst der
Rebell aber will als solcher wahrgenommen werden. Eine
implizite Hoffnung kollaborativer Schreibprojekte scheint mir
deshalb zu sein, im Geleitzug überhaupt die
Wahrnehmungsschwelle einer abstumpfenden Öffentlichkeit zu
überspringen.
(Selbstverständlich gibt es auch andere Motive; die Lust an der
Kooperation selbst usf.; daß die von mir vorgeschlagenen,
zugegeben sehr kalten, diskursökonomischen Kategorien aber
nicht völlig abwegig sind, wird das weitere vielleicht
zeigen).
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Signifikanz nämlich, und hier gehen Anreihbarkeit und Geltung
zusammen, kann in der Mediengeschichte als eines der zentralen
treibenden Motive überhaupt gezeigt werden. Der Versuch,
Signifikanz und Geltung des einzelnen Produkts zu steigern, so
könnte man sagen, teibt die Mediengeschichte und die
fortschreitende Technifizierung der Medien auf jeder ihrer Stufen
immer wieder voran.
Der einzelne einsam Schreibende ist keineswegs, wie die erste
Intuition uns belügt, Keim- und Urzelle, Urszene einer
schriftbasierten Öffentlichkeit. Der einzelne einsam Schreibende
vielmehr ist historisch einigermaßen spät, und Spaltprodukt eines
Prozesses, der davor sehr selbstverständlich ein kollaborativer
war. So ist das Buch der Bücher, die Bibel, als eine Sammlung
von Texten und als schriftliche Niederlegung einer mündlichen
Überlieferung selbstverständlich ein Kollektivprodukt und nur als
solches in der Lage, einem unendlich verzweigten
Sekundärdiskurs ein organisierendes Zentrum zu geben. Die
Listen der Ägypter waren keineswegs individuell usf.
Und gleichzeitig gilt für den einzelnen Schreibenden eben doch,
daß er ein einzelner Schreibender ist. Mediengeschichte, dies ist
meine Behauptung, hat deshalb (und möglicherweise nur
deshalb) den Raum des Schreibens verlassen.
Und zwar ist Mediengeschichte den Weg der Industrialisierung
gegangen. Den Weg also, der sich im Fall der Warenproduktion
als so ungeheuer erfolgreich erwiesen hatte: und der, wie Marx
lehrt, zuerst in der Manufaktur durch Arbeitsteilung und
Kooperation, und dann durch forcierten Technikeinsatz
gekennzeichnet ist. Arbeitsteilung und Kooperation -
selbstverständlich - sind Modi der Anreihbarkeit. Technikeinsatz
wiederum korresponiert mit der Schrift, insofern eine lange
Vorbereitungszeit eine sehr knappe Ausführungszeit erlaubt. Im
Fall der Schrift mündet ein langes Nachdenken in einen
idealerweise knappen Text, im Fall der Technik eine lange
materielle Prä-Paration/Vor-Arbeit in die materielle Gestalt einer
Maschine (und einen verkürzten Zeitzyklus in ihrem produktiven
Einsatz).
Exakt diese Logik des Staus übernimmt die
Mediengeschichte, wenn sie vom einzelnen einsam Schreibenden
zu Photographie und Spielfilm übergeht. Benutzt schon der
einzeln einsam Photographierende zumindest eine avancierte
Maschine, ist der Spielfilm sowohl arbeitsteilig-kooperativ als
auch technisch vermittelt.
Spielfilme dürfen insofern nicht nur teuer sein, weil
sie große Publika an sich ziehen, sondern sie müssen
teuer sein; die Tatsache, daß sie teuer sind, zeigt in welchem
Maße es gelungen ist, große arbeitsteilige Stäbe anreihbarer
Spezialisten und eben avancierte aufgestaute Technik in ein
einzelnes Projekt zu integrieren. Das einzelne Projekt (der
einzelne visuelle Text) steht für diese
Kollektivanstrengung; er ist signifikant aufgrund der Tatsache,
daß diese Integration gelungen ist (oder eben die Präparation war
vergeblich, der Film hat versagt und floppt).
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Die Kategorie, die ich für diese Dimension der
Mediengeschichte vorschlagen möchte, ist die der
Verdichtung. Mediengeschichte ist der Versuch, die
Signifikanz einzelner Produkte durch Verdichtung zu steigern.
Daß ein Spielfilm mehr lebendige Arbeit enthält als ein Roman,
macht seine Signifikanz (und seine potentielle
Massenwirksamkeit) aus; er selbst ist knapp-verdichtete
Repräsentationsform dieser lebendigen Arbeit; er ist das
Nadelöhr, durch das es tatsächlich gelungen ist, ein Kamel zu
peitschen.
Verdichtung ist ein Begriff, der eine quantitative mit einer
qualitativen Vorstellung verschränkt. Große Quantitäten haben
wie durch Wunder auf knappstem Raum Platz gefunden; was die
Fusionsreaktoren im Umgang mit tatsächlichen Atomen noch
wortreich versprechen, scheint in der Sphäre des Symbolischen
einigermaßen entspannt bereits realisiert.
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Aber war das eigentliche Thema nicht Komplexität? Nun, ich
denke, Verdichtung hat mit Komplexität intensiv zu tun.
Mediengeschichte ist eine Abfolge von Technologien, die
Komplexität ermöglichen, indem sie Komplexität verabschieden.
Und zwar mittels Verdichtung. Unser Ausgangspunkt war die
Komplexität flächig-additiv nebeneinander bestehender
schriftlicher Texte mit jeweils unterschiedlichem Projekt und
unterschiedlicher Perspektive. Und das Problem war die
Ungewißheit, wie der jeweils eigene Einzeltext sich zu den
Paralleltexten und zur halluzinierten Gesamtfläche
möglicherweise verhält.
Die Mediengeschichte hat dieses Problem mit Modellen der
Verdichtung beantwortet. Mediengeschichte ist eine Maschine,
die die Anzahl von Texten - ihre Extension - nachhaltig reduziert
hat, zugunsten ihrer Intension; und eine Abfolge enorm
kondensierter (verdichteter) Textsorten (und Techniken)
hervorgebracht hat. Diese Texte und Techniken nun sind der
grausame Maßstab, an dem sich alle verstreuten Einzelprojekte
(und seien es eben kollaborative) werden messen müssen.
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Es scheint mir keineswegs ein Zufall zu sein, wenn eines oder
mehrere dieser kollaborativen Schreibprojekte in der Utopie
einer Netz-Enzyklopädie das Projekt der historischen
Enzyklopädie wieder aufgreifen. Denn was war die
Enzyklopädie? Ein historischer Versuch, das Schwirren der
unendlich vielen parallellaufenden Texte auf einer Master-Ebene
dennoch noch einmal zu vereinigen und einheitlich zu
repräsentieren; jener Anspruch 'Das Wissen der Welt'
zusammenzufassen, den noch der trivialste, einbändige
Brockhaus von diesem Projekt erbt.
Aber eben: es ist ein historischer, um nicht zu sagen, überholter
Versuch. Ein historisch überholter Versuch der Verdichtung
eines extensiven Wissensuniversums in einen intensiven Text
gesteigerter Signifikanz; gesteigert allein über so semantische
Strategien wie Auswahl und Generalisierung, über eine
halluzinierte Neutralität und Neutralisierung der Perspektiven -
insofern es eben keinen eigenen Brockhaus nur für
Sozialdemokraten gibt - bis hin zu den Techniken der
Darstellung, die unter der Hand Journalismus und
Wissenschaftsjournalismus beleihen.
Die Mediengeschichte, wie gesagt, hat mit Photographie,
Spielfilm usw. andere Lösungen gefunden. Eine der
bestechendsten Lösungen dürfte sein, daß das Datennetz in sich
selbst ja bereits ein kollaboratives Schreibprojekt darstellt.
Aber war dies das Schrift- und Papieruniversum auf einer
abstrakten Ebene nicht auch? Die wichtigste Neuerung des
Netzes ist, daß es anders als Papier und Schrift eben
keiner handgemachten Master-Ebene in Form einer
Enzyklopädie mehr bedarf, sondern diese quasi
mitgeneriert allein aufgrund der Tatsache, daß es
sich nun um maschinenlesbare Texte handelt. Dies nämlich hat
die Möglichkeit eröffnet, vergleichbare Master-Texte auf
maschinellem Wege zu generieren.
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Die Rede, selbstverständlich, ist ein weiteres Mal von den
Suchmaschinen. Suchmaschinen - Volltext-Suchmaschinen - sind
eine Technologie, die eine unendlich große Fläche von Texten in
eine äußerst kompakte Art der Speicherung umarbeitet, so
kompakt eben, daß der entstehende Index auf einem einzelnen
Rechner vorgehalten werden kann. Insofern die Suchmaschine
die Fläche der analysierten Texte erschließt, kann
man tatsächlich sagen, daß sie diese enthält, und
zwar auf eine komplexere Weise enthält, als dies
enzyklopädisch-berichtende Mastertexte jemals könnten.
Im Licht des Gesagten in der Tat eine beeindruckende
Technologie, und zweifellos eine Technologie - der Verdichtung.
Wenn die Fläche der Texte das ursprünglich beängstigende war,
so hat der maschinell generierte Mastertext Fläche und Angst
weggearbeitet; (daß es gerade in der Perspektive der
Angstbewältigung auch Einwände gegen diese Maschinen wie die
ihnen zugrundeliegenden Annahmen und Algorithmen gibt, habe
ich an anderer Stelle selbst diskutiert).
Wenn das Netz also die Enzyklopädie ist, oder das Netz durch
die Suchmaschinen, oder das Netz und die Suchmaschinen, in
der Tradition der Mediengeschichte von Photographie zum
Spielfilm und darüber hinaus, dann wird klar, daß es ein
ziemlich wohlorganisierter Gegner ist, mit dem es die
kollaborativen Schreibprojekte und/oder die Netz-Enzyklopädien
zu tun haben.
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Ich will niemanden entmutigen. Realismus aber ist die Basis
dafür, das eigene Projekt realistisch, möglicherweise gerade
deshalb aber erst wirkungsvoll zu plazieren. Das Projekt der
kollaborativen Schreibprojekte wäre insofern vielleicht neu zu
bestimmen; in der Spannung und in berechneter Opposition zum
Mainstream jener technischen Lösungen, die die
Mediengeschichte uns vorträgt; da die inhaltlich-semantische
Ebene einer solchen Opposition mit den politischen Subkulturen
der Siebziger möglicherweise ausgereizt ist, und die ästhetische
mit den ästhetischen Subkulturen der Achtziger, bietet eine
subversiv-experimentell-oppositionelle Arbeit an den technischen
Standards sich an. Interessant scheint mir zu sein, wenn ein
kollaboratives Schreibprojekt, wie ich gesehen habe, bilaterale
Links statt der im Netz etablierten unilinearen erlaubt und die
Beteiligten auf diese Weise Erfahrungen mit abweichenden
Standards sammeln. Auf diese Weise könnten auch im Netz
Inseln entstehen, die andere als Mainstream-Erfahrungen
ermöglichen; und eine Technik, die nur wenige Jahre gebraucht
hat, um für uns alle zu einer Art zweiter (dritter) Natur zu
werden, noch einmal zu entnaturalisieren. Ob dergleichen unter
dem Begriff der Poesie zu fassen wäre, der im Programm einer
'Diskurs-Poetik' noch einmal anklingt, sei dahingestellt. Der
offenkundig problematische Inhalt des kollaborativ
Geschriebenen aber wäre dankenswerterweise entlastet.